Die tägliche Scham: Kinderarmut

Eigentlich müsste uns diese Scham jeden Tag ergreifen und aufrütteln, aber wir verstecken uns lieber hinter Phrasen wie: „Kinder sind unsere Zukunft.“ Dabei können wir seit der Veröffentlichung der KIGGS-Studie (Kinder- und Jugendgesundheitssurvey, RKI 1.Untersuchungsphase 2003-2006) nicht mehr Unwissen vorschieben: Es gibt keinen Bereich des menschlichen Seins, der nicht durch Armut von Kindern und Jugendlichen dauerhaft, beeinträchtigt wird. Damit berauben wir diese Kinder und Jugendlichen wichtiger Entwicklungschancen und versperren ihnen den Weg in eine erfolgreiche Zukunft. Wir werden schuldig, wollen besser davon nicht zu viel wissen und fühlen uns schlecht. Diskussionen über Kinderarmut sind immer belastet durch gefühlte Schuldzuweisungen und deren Abwehr

Kinderarmut, „die größte Ungerechtigkeit und eine unerträgliche Schande für das reiche Deutschland“ (Prof. Butterwegge, Armutsforscher)”, ist dabei kein neues Problem. Jedes 5. Kind in Deutschland lebt unter Armutsbedingungen. In Berlin betrifft dies jedes 4. Kind: Berlin, Hauptstadt der Kinderarmut. In einer Großstadt wie Berlin kommen weitere erschwerende Faktoren für Kinder unter Armutsbedingungen hinzu. Vor allem Familien mit Migrationsgeschichte sind hiervon betroffen. Arm zieht zu arm und reich zu reich. Durch den Gentrifizierungsprozess kommt es zu einer sozialen Segregation. Arme Familien werden in die Peripherie der Großstadt verdrängt, wie es schon seit Jahren in Berlin zu beobachten ist. Es droht die Gefahr der Entstehung von banlieues, wie sie in Frankreich die soziale Spaltung schon seit Jahrzehnten dokumentieren.

 

Massive Investitionen in die Bildung wären nötig, um diesen Entwicklungen entgegenzutreten. Deutschland investiert aber nur 3-4% seines Bruttoinlandsproduktes in Bildung, während es in Ländern wie Finnland 7-8% des BIP sind, was sich auch in den Bildungserfolgen Finnlands im Vergleich beider Länder niederschlägt. Die Realität in Deutschland sind marode Schulen und fehlendes Lehrpersonal. Um hier frühzeitig gegen zu steuern käme der frühkindlichen Bildung in Kitas eine besondere Bedeutung zu, aber der deutsche Kitaleitungskongress hat kürzlich verlauten lassen, dass durch Personalmangel in den Kitas die frühkindliche Bildung gefährdet ist und die Politik ihrer gesetzlichen Verantwortung nicht gerecht wird.

Die Kindergrundsicherung, verankert im Koalitionspapier der Ampel und wichtigstes Vorhaben in dieser Legislaturperiode, lt. Familienministerin Lisa Pau (Grüne), deren Herzensangelegenheit dieses Vorhaben ist, soll es jetzt richten. Die Erhöhung materieller Mittel für arme Kinder ist die Basis, von der aus Kinderarmut angegangen werden muss, flankiert von Maßnahmen im stadtsoziologischen Bereich und im Bildungssystem. Die von der Ampel-Koalition jetzt beschlossene Erhöhung der finanziellen Mittel für Kinder ist vollständig unzureichend, wenn sie nicht als zynisch betrachtet werden muss.

 In Zukunft wird sich diese Ungerechtigkeit absehbar durch die Folgen der Klimakrise verschärfen. Das Land Berlin hat mit dem Umweltgerechtigkeitsatlas hierzu schon heute eine gute Datengrundlage geschaffen. Umso wichtiger ist es, dementsprechend zielgerichtet und schnell zu handeln. Vulnerable Gruppen, und dazu gehören insbesondere auch Kinder aus gefährdeten Stadtbezirken, benötigen besonderen Schutz und Aufmerksamkeit im Kontext von Klimaanpassung.

Die Folgen von Armut, sei es Bildungsarmut durch unser schlechtes Bildungssystem oder finanzielle Armut durch unser dysfunktionales Sozialsystem, sehen wir tagtäglich in den Praxen und Kliniken. Wir werden diese Fehlentwicklungen aus unserer Perspektive aufzeigen und von der Politik die entsprechenden Maßnahmen einfordern.

Nach den Ergebnissen der KIGGS sowie der Schuleingangsuntersuchungen zeigt sich, dass insbesondere in Bezirken mit geringerer Sprachkompetenz zum Einschulungszeitpunkt, die Teilnahme an den Vorsorgen im Vorschulalter (U8 und U9) sowie die Heilmittelverordnungen zur Sprachtherapie (Logopädie) besonders gering sind im Vergleich zu Stadtbezirken mit hoher Sprachkompetenz. Übersetzt bedeutet dies, dass ausgerechnet diejenigen, die es am meisten benötigen, keinen adäquaten Zugang zu unserem Gesundheitssystem haben. Es darf nicht sein, dass Armut von Kindern und Familien dazu führt, dass der Zugang zu unserem Gesundheitssystem beeinträchtigt wird.

Die Ungleichverteilung pädiatrischer Praxen im Stadtgebiet mit der Unterversorgung in sozioökonomisch benachteiligten Bezirken muss dringend geändert werden.

Beschlüsse der Deutschen Ärztetage auf Antrag oder unter Mitwirkung der FrAktion Gesundheit:

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