Schon vor dem Fall der Mauer war spürbar, dass die Trennung Berlins nicht mehr überdauern kann. „Arbeitslose Ärzte in die DDR“ war ein Slogan der Ärztekammer Berlin, als die Fluchtbewegung von Ärzten zu Versorgungsproblemen in Ostdeutschland führte. Die Kolleginnen und Kollegen des Neuen Forums erhielten über die IPPNW Unterstützung und als am 9. November 1989 die Mauer geöffnet wurde, stellte der Vorstand der Ärztekammer alle Hebel auf Vereinigung um. An der Charité hatten Ärztinnen und Ärzte, die sich von staatlicher Bevormundung und Gängelei befreien wollten, den Rudolf-Virchow-Bund gegründet. Damit bestand eine legitimierte und selbstorganisierte Vertretung der Ostberliner Ärzteschaft und die Repräsentanten des Virchow Bundes wurden im Vorstand der Ärztekammer Berlin gleichberechtigt beteiligt. Das half, die Vereinigungswirren zu bewältigen und bereits im Herbst 1990 fand die erste Gesamtberliner Kammerwahl statt.

Zu den Delegierten der Fraktion Gesundheit gehörten Ostberliner Kollegen wie Jens Reich, Thea Jordan, Hannelore Mau oder Eberhard Seidel. Der Marburger Bund unter dem Vorsitz von Hermann Mahn hatte diesmal eine eigene Liste gebildet. Die Liste des Rudolf-Virchow-Bundes mit Harald Mau kam auf 12 Mandate, der MB auf 9 und die Fraktion Gesundheit auf 36 von damals insgesamt 90 Mandaten, so dass Fraktion Gesundheit, MB und Virchow-Bund eine Kooperation mit fast Zweidrittelmehrheit erreichten. Ingrid Reisinger wurde zur Vizepräsidentin gewählt und fünf Kolleginnen und Kollegen aus Ostberlin kamen in den Vorstand der Ärztekammer. Das war entscheidend für die kooperative und gegenseitig anregende wie beglückende Vereinigung der Berliner Ärzteschaft. Wir Ärztinnen und Ärzte in Berlin schafften das besser als andere gesellschaftliche Bereiche. Entscheidend war dabei ein respektvoller und achtsamer Umgang mit den Leistungen der Ärztinnen und Ärzte in der DDR.

Die Ärztekammer Berlin verlegte ein Werkstattbuch „Zukunft für Ambulatorien und Polikliniken“, das der letzte DDR Gesundheitsminister Jürgen Kleditzsch noch an alle 10.000 Einrichtungen der Ostdeutschen Länder verteilen ließ. Unser Vorschlag mit einem Nachweis besserer Wirtschaftlichkeit zielte auf ärztlich geleitete und selbstständige Gesundheitszentren. Jetzt entsteht dieses Konzept als MVZ neu und trägt zur Lösung alter wie neuer Versorgungsprobleme bei. Um den schwierigen Umbruch im Gesundheitswesen zu bewältigen gründete die Ärztekammer Berlin die „MUT-Gesellschaft für Gesundheit mbH“, in der zeitweise über 800 ABM Kräfte tätig wurden. So entstand ein funktionierendes System der Obdachlosenmedizin für Berlin. Bekannt wurde Jenny de la Torre , die in der Folge eine eigene Stiftung gründen konnte. In Mahlsdorf gründeten wir das Nachbarschaftshaus Donizetti, in Treptow eine Tagesstätte für Alkoholkranke, in Lichtenberg eine Anlaufstelle für Obdachlose . In Kindergärten, Schulen und mehreren Stadtteilen setzte die „Kammer-MUT“ präventive Aktivitäten um und der frühere Berater der DDR bei der WHO, Werner Schmidt, entwickelte mit Unterstützung der Kammer Konzepte für Gesundheitsförderliche Krankenhäuser. Später wurde Schmidt Leiter der Stabsstelle Qualitätsentwicklung und Projektmanagement am Krankenhaus Rüdersdorf.

Die Berliner Ärztekammer erhielt durch die Fraktion Gesundheit Impulse, die ihr heute noch Profil geben. Das Zentrum für Folteropfer, die Obdachlosenambulanz, der Menschenrechtsbeauftragte, die Projekte der Beschäftigungsgesellschaft MUT oder das Treffen junger Assistenzärzte – alle diese von der Fraktion Gesundheit einst ins Leben gerufenen Einrichtungen haben heute noch Bestand. Nach der Vereinigung fasste die Ärztekammer Berlin das gemeinsame Selbstverständnis mit einem Leitbild der Ärzteschaft in sozialer Verantwortung zusammen: „Die Ärzteschaft dient den Gesundheitsinteressen der Menschen“, „Unsere ärztlichen Aufgaben lösen wir gemeinsam mit den Patienten“, „Unsere ärztliche Leistung ist Hilfe zur Autonomie“, „Keine medizinischen Eingriffe ohne Nutzen für den Patienten“, „Das Gesundheitssystem als soziales Gefüge“, „Unsere Medizin folgt einem ganzheitlichen Menschenbild“, „Wir sind dem Menschen zugewandt,kollegial und offen“. So berichtet das die Sonderausgabe Berliner Ärzte zu 50 Jahre Berliner Ärztekammer.