Die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels der „68er“ erreichte in den siebziger Jahren das konservative Milieu der ärztlichen Standesfunktionäre. Die „Gemeinsame Liste Klinik und Praxis“ eroberte 1974 bei den Kammerwahlen in Berlin fast ein Drittel der Sitze. Die Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Ärzte hatte die Listenverbindung organisiert und bildete also die erste „Fraktion Gesundheit“ in der Ärztekammer Berlin.

Die AuA Gruppen breiteten sich bundesweit aus und 1975 veranstalteten die oppositionellen Kräfte ein Fly-In zum Ärztetag nach Hamburg. Fünfhundert Kolleginnen und Kollegen demonstrierten gegen den Muff unter dem weißen Kittel. „Die Schein-Heiligen“ lautete der Titel ihrer Informationsbroschüre, die breites Aufsehen erregte. Die Berliner AuA Sprecherin Anne Morgenstern erläuterte in einem Spiegel Interview  den Widerstand gegen die „Halbgötter in Weiß“: „Es werden Chancen vertan, Patienten zu helfen, denen man eigentlich, nach dem wissenschaftlichen Stand der Medizin, helfen könnte.“

Hans Joachim Sewering, der damalige Präsident der Bundesärztekammer, lästerte über die Spinner da draußen und erklärte die Probleme des Gesundheitswesens mit den „Folgen eines allzu bequemen Lebens unserer Bürger“. Es ist „ein Charakteristikum im Krankheitsbild der deutschen Medizin, dass man einfach nicht wahrhaben will, dass ein großer Teil von Erkrankungen seelische Ursachen hat“, meinte dagegen Anne Morgenstern, die auch Sprecherin der Gemeinsamen Liste Klinik und Praxis in der Ärztekammer Berlin war. Die Wirkung der oppositionellen Delegiertengruppe störte erheblich die Selbstzufriedenheit der Berliner Kammerführung mit dem Präsidenten Wilhelm Heim an der Spitze, einem ehemaligen SA-Standartenführer.

Bundesärztekammerpräsident Hans Joachim Sewering war in die Euthanasie-Verbrechen im Nationalsozialismus verstrickt und verdrängte ebenso wie Wilhelm Heim in Berlin mit autoritärer Verve seine braune Vergangenheit. Die selbstgerechten Auftritte der damaligen Standesfürsten waren menschlich wie fachlich kaum zu ertragen. Sie wollten nicht wahrhaben, dass eine neue Generation von „Ärzten in sozialer Verantwortung“ aufgebrochen war und ein anderes Verständnis der ärztlichen Aufgabe einforderte.

Aktiv in der oppositionellen Truppe waren Kollegen wie der Psychoanalytiker und Psychiater Frank Matakas , der Hautarzt Hans Halter, der Nephrologe Helmut Becker, der Neurologe Karl-Friedrich Masuhr  oder der Chirurg Hermann Brehme. Masuhr zog von 1972-74 als Assistentenvertreter gemeinsam mit dem Hamburger Medizindidaktiker Winfried Kahlke in das Präsidium des Deutschen Ärztetages ein. Die beiden Repräsentanten der Assistenzärztinnen und Assistenzärzte der Kliniken wurden damit zum Wegbereiter der heutigen Bedeutung des Marburger Bundes. Hans Halter machte als Reporter und Redakteur beim Spiegel Furore und blieb ein couragierter Kritiker des patientenfernen und kommerziellen Medizinsystems. Er berichtete bereits 1982 und erstmals in Deutschland über die Immunschwächekrankheit AIDS.

Helmut Becker initiierte die „Ärztegruppe für eine ausreichende medizinische Versorgung in den Haftanstalten“. Sein Engagement für eine menschliche Medizin überzeugte viele und im Januar 1982 wurde Helmut Becker (mit einer Stimme Mehrheit) zum neuen Vizepräsidenten der Berliner Ärztekammer gewählt. „Knast-Becker“ war damit der erste „Linke“ in einem Vorstand der konservativ dominierten Ärztekammern. Die Fraktion Gesundheit mit damals integriertem Marburger Bund bildete eine wackelige Koalition mit der Hausarztliste und wählte als größte Fraktion den Hausarzt Peter Krein zum Präsidenten. Nach nur einem Jahr schwenkten die Hausärzte wieder ins konservative Lager um und Helmut Becker verlor sein Amt und die Ärztekammer eine von der Fraktion Gesundheit und dem MB eröffnete Chance zu einer gründlichen Erneuerung. Doch die gesundheitspolitische Bewegung für eine Ärzteschaft, die sich ihrer gesellschaftlichen Aufgabe bewusst ist, setzte sich außerhalb der Ärztekammern durch.